Fortschr Neurol Psychiatr 2001; 69(11): 532-538
DOI: 10.1055/s-2001-18377
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Synästhesie - Zur kognitiven Neurowissenschaft des farbigen Hörens

Synaesthesia - Towards a Cognitive Neuroscience of Coloured HearingSabine  Schneider1 , U.  Müller2
  • 1Institut für Allgemeine Psychologie
  • 2Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Universität Leipzig
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Publication Date:
12 November 2001 (online)

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Zusammenfassung

Gegenstand dieser Übersichtsarbeit ist die Synästhesie, ein seit langem bekanntes, aber noch wenig empirisch erforschtes Phänomen. Bei der häufigsten Form der Synästhesie werden zu gehörten oder gelesenen Tönen, Zeichen oder Wörtern unwillkürlich farbige oder dreidimensionale visuelle Sekundärempfindungen wahrgenommen. Epidemiologie und Genetik zeigen, dass die synästhetische Eigenschaft in der Normalbevölkerung häufiger als bisher angenommen auftritt, wobei eine Frauenwendigkeit und familiäre Häufung besteht. In psychophysischen Untersuchungen synästhetischer Mechanismen an Normalpersonen zeigten sich tendenzielle Zuordnungen von Farben zu Tönen. Kognitionspsychologische Einzelfallstudien von Synästhetikerinnen fanden eine hohe Konsistenz der synästhetischen Assoziationen und beobachteten verhaltensrelevante Interferenzen zwischen Primärwahrnehmung und synästhetischer Sekundärempfindung. Erste Studien mit funktioneller Bildgebung des Gehirns beschreiben neuronale Korrelate synästhetischer Wahrnehmung. Neuropsychiatrische Patientenstudien analysieren synästhetische Wahrnehmungen bei Sehnervläsion, Armamputation und bei schweren Depressionen sowie als drogeninduziertes Phänomen nach Halluzinogenen. Die vorliegenden Theorien und Modelle beschreiben die Synästhesie als Ergebnis neuronaler Fehlentwicklung mit möglicherweise genetischer Ursache. Spekulative Theorien halten die Synästhesie für ein hypermnestisches Phänomen. Die Rolle emotionaler Mechanismen bei synästhetischer Wahrnehmung muss weiter empirisch überprüft werden.

Abstract

This review is about synaesthesia, a well known but still poorly investigated phenomenon. The most common form of synaesthesia is coloured hearing. Epidemiological and genetical studies show that synaesthesia has a higher prevalence in the normal population than previously stated. Most subjects are female and there is a clear heritability. Psychophysical investigations of synaesthetic mechanisms in normal subjects show reliable colour-tone-attributions. Single case studies with paradigms from experimental psychology found a high consistency of synaesthetic associations and observed behaviourally relevant interferences between primary perception and secondary synaesthetic sensations. The first studies using functional neuroimaging methods found specific neuronal correlates of synaesthesia. Neuropsychiatric studies analyze synaesthesia-like phenomena in patients with optical nerve lesions, upper limb amputation or severe depression and as induced by hallucinogenic drugs. Data-based and more speculative theories and models of synaesthesia are presented and critically discussed.

Literatur

Sabine Schneider, M.A. 

Institut für Allgemeine Psychologie der Universität Leipzig

Seeburgstr. 14-20

04103 Leipzig

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